Diplom Bildende Künste bei Prof. Ulrich Reimkasten, Studienrichtung Malerei/Textile Künste, 2012
Der Kern der praktischen Diplomarbeit ist der ständige Fluss des menschlichen
Bewusstseins. Das beständige umschalten zwischen “Automation” und “Wachsamkeit”.
Das unentwegte Verarbeiten von Sinneseindrücken, Interagieren mit dem Jetzt,
Abgleichen zu Erinnerungen, Projizieren auf Zukünftiges, Rückgriff auf Muster etc. Die
Instanz, die unsere Wirklichkeit zusammenfügt, ruht nie. Deshalb auch der Titel “fließende
Welt”. Ursprung war eine Betrachtung von Leonardo Da Vinci, den Künstler seit seinen frühen Studienjahren begleitet und nachträglich geprägt hat. Es handelt sich um einen
Ausschnitt seines Traktats über die Malerei. In diesem widmet er sich einer assoziativen
Methode des Sehens.
“Unter diesen Vorschriften soll aber eine neue Erfindung in der überlegenden Betrachtung nicht fehlen; die, wenn sie auch ärmlich und beinahe lächerlich erscheint dennoch von größtem Nutzen ist, den Geist zu mannigfachen Erfindungen anzuregen. Und das geschieht, wenn du manches Gemäuer mit verschiedenen Flecken oder mit einem Gemisch aus verschiedenartigen Steinen anschaust; wenn du dir gerade eine Landschaft ausdenken sollst, so kannst du dort Bilder verschiedener Landschaften mit
Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tälern und Hügeln verschiedener Art sehen; ebenso kannst du dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen , die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst. Mit solchem Gemäuer und Steingemisch geht es wie mit den Kirchenglocken, du findest in in ihrem Schlag jeden Namen und jedes Wort, das du dir Vorstellst.” “Die Flecken an der alten Mauer”
Leonardo Da Vinci - Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei S.385,Hrsg.: André Chastel Verlag Schirmer&Mosel
Seitdem hat Martin Bozenhardt sich mit dieser Herangehensweise beschäftigt und sie in
verschiedenen Formulierungen grafisch als auch malerisch verfolgt. Das “Gemäuer
mit verschiedenen Flecken”, Ausgangspunkt, Impulsgeber wird durch spontane,
gestenhafte Äußerungen vom Künstler selbst erschaffen. Was bedeutet begriffliches Denken, Zögern, Filtern usw. außen vor zu lassen um möglichst wenig Verstandesgemäß zu walten. Ähnlich einem Rausch. Ein Fluss. Solang das Fließen anhält, wird die entstehende Struktur immer weiter verdichtet. Bis zu dem Punkt, an dem sich der Verstand wieder zu Wort meldet. Das geschieht früher oder später. Je nach Komplexität des Ergebnisses, gilt es abzuwägen, ob die Prozedur auf demselben Bildträger nach kurzer Pause noch einmal beginnt oder abgebrochen wird und der nächsten Schritt erfolgt. Das Ergebnis erscheint als Knäuel, wolkenartig, wirr, ein wildes Geschmiere,zusammenhangslose Krakelei.
Der zweite Abschnitt des Prozesses ist die eingehende Betrachtung der Vorgabe.
Solange, bis sich Formen und Bilder aus dem abzeichnen, was als willkürlich Dahingeworfenes dasteht. Einfühlung oder Einsehen in das Gefüge. Zu entdecken was
es für mich verstandesmäßig bereit hält. Welche Assoziationen treten zutage? Was löst die Struktur in mir aus? Welche Ordnungen liegen dem Ganzen in Bezug zu mir zu Grunde? Welche Formen stechen heraus? Wie kann ich alles in eine bildhaft nachvollziehbare Gestalt fügen, Beziehungen aufbauen, Gegenüberstellungen herausarbeiten?
Ist dies geschehen folgt die Umsetzung des Eingesehenen, das Einzeichnen. Festigen
der entdeckten Erscheinungen, des flüchtigen Gedankens und Einbinden derer in
ein Bildgefüge. Verdichtung. Chaotische in geordnete Zustände bringen. Den Grad,
der mir entgegentretenden Entropie heruntersetzen. Die Ergebnisse variieren von
zeichenhaften Einzelwesen bis hin zu verwirrenden Netzwerken die sich über das
Blatt entwickeln. Sie erinnern an technische als auch biologische Formen oder einer
Mischung aus Streetart und Ornamentik nordostamerikanischer Ureinwohner.
Altes und neues, organisches und anorganisches, humorvoll und ernsthaft, massiv
und fein, wild und geordnet. Die Arbeit bewegt sich in Spannungsfeldern. Alles steht
in Beziehung zueinander. Nach innen wie nach außen. Dürer und da Vinci stehen
gleichberechtigt neben Hokusai oder Hiroshigge. Klassische Zeichnung neben
Tätowierung. Chinesische Landschaftsmalerei neben Comics. Um den eben beschriebenen Vorgang in eine schriftliche Entsprechung umzuwandeln,
bedurfte es zunächst dem Moment des unbewussten Schöpfens bzw. dem ungefilterten
Ansammeln, um damit die Krakelei oder “Flecken an der Mauer” sprachlich
nachzubilden. Dafür boten sich zwei literarischen Methoden an. Einerseits die “écriture
automatique”, ein von den Surrealisten postuliertes Verfahren, um bewusst unbewusst
auf assoziativer Ebene zu arbeiten. Hierbei wird geschrieben ohne verstandesmäßig
einzulenken und damit Zensur über die Niederschrift auszuüben. Jedes mal wenn sich
verstandesmäßiges Denken einschaltet, wird der Schreibvorgang abgebrochen und von
neuem begonnen. Andererseits der “stream of conciousness” oder Bewusstseinsstrom.
Dabei wird über das Schreiben der Versuch unternommen den Verstand, Gefühl,
Wahrnehmung so wiederzugeben, wie es durch den Ausführenden fließt. Man könnte
das auch als ein Verstandesaufnahmeverfahren bezeichnen. Bei beiden Verfahren
handelt es sich um Vorgehen, die weitestgehend ungefiltert aus der persönlichen Ebene
schöpfen sollen, um einen höchstmöglichen Grad an Authentizität zu erreichen. Das
Resultat war ein Textwust, durch den ich mich dann, im Sinne des im zeichnerischen
Modus als “Einsehen” beschriebenes Moment, durcharbeitete. Was hat Relevanz
(Themen)? Was sticht heraus(sprachlich, formal)?
Wo entstehen die stärksten Bilder? Daraufhin hat Martin Bozenhardt die gesichteten Teile aus den Texten herausgenommen und in ihrem Rohzustand bearbeitet. Satzstruktur, Kürzungen, Umschreibung, Klarheit, kurzum den zeichnerischen Ordnungsprozess auf das Fragment angewandt. Ergebnisse sind Miniaturen, kleine Texte, die trotz ihres fragmentarischen Ursprungs eine in sich geschlossene Form aufweisen. Die Texte bewegen sich, wie auch die Zeichnungen in Spannungsfeldern. Klarheit und Irrsinn, Wachzustand und Traum, Verspielt und Ernsthaft, Prosaisch und Poetisch. Man kann sich ihnen meist nicht mit der Erwartungshaltung an klassische Textformen nähern. Es geht mir nicht um das verstehen. bzw. verstanden werden. Klar im Vordergrund stehen zwei Dinge. Erstens der Versuch eine schriftliche Entsprechung zu meinen Zeichnungen zu schaffen. Zweitens das Hervorrufen von authentischen Bildern und Gefühlen, nicht aber den logischen Strang einer Erzählung oder dergleichen zu erzeugen.
Das Anliegen bei beiden Äußerungen, sowohl zeichnerisch als auch schriftlich, ist
nicht die Präsentation von naturalistischen Sujets, sondern eine absolut subjektive
Darstellung von Weltwirklichkeit über eine bestimmte Zeit. Damit ist in diesem Falle
die Arbeit als durch und durch autobiographisch zu betrachten. Eine Untersuchung
und Beschreibung von persönlichen Zuständen während der Zeit des Diploms.