Diplompräsentation von Miriam Albert am 30.01.2020 im Weißen Haus, Raum 104.

„Sehen ist eine oberflächliche Erfahrung. Der Blick stößt erstmal nur auf Oberflächen. Der durchdringende Blick, der Röntgenblick, ist eher sprichwörtlich oder eine seltene Begabung. Gleichzeitig deutet die Oberfläche immer schon ein Darunter an, worüber sie sich legt oder von dem sie gespannt wird. Eine Oberfläche macht neugierig. Wenn man wissen möchte, was sich unter der Oberfläche verbirgt, kann man die Oberfläche befragen. Man kann an der Oberfläche kratzen, kann Schichten abtragen, ein Loch graben. Man kann auch etwas durchschneiden, einen Querschnitt machen. Dann hat man einen Einblick. Allerdings blickt man dann erneut auf eine Oberfläche, eine Sägekante zum Beispiel oder eine Bruchkante. Das Öffnen der Oberfläche bringt immer neue Oberflächen hervor.
Dinge stehen stellvertretend für menschliche Handlungen, Eigenheiten, Gewohnheiten. Dinge sind Spuren. An den Dingen kann man gut Untersuchungen anstellen, denn sie sind so handlich und statisch.
Die Gipsabformung hat dokumentarischen Charakter, ist aber auch ein Transformationsprozess. Dokumentarisch, weil sie akribisch genau Oberfläche und Form wiedergibt. Allerdings darf man dem Gipsguss nicht vorbehaltlos trauen, denn man kann den Guss bearbeiten beziehungsweise die Form vor dem Guss sogar manipulieren. Abformen ist eine Verwandlungskunst: Etwas sieht aus, wie … - ist aber einfach Gips. Wenn man Dinge in das Material Gips überführt, behalten sie, bis auf die Farbe, nahezu ihre Gestalt, verändern aber ihre Eigenschaften. Flüssiges wird fest, Stabiles zerbrechlich, Schweres leicht, Leichtes schwer, Nahrhaftes ungenießbar, Verderbliches haltbar.
Gips ist auch in der Archäologie ein beliebtes Material. Spuren deuten, den Boden aufgraben, den Schichten des Untergrundes Epochen zuteilen: Im Raum, in der Materie wird die Zeit greifbar. Oft stößt man unerwartet auf Funde, bei einer Baustelle zum Beispiel oder beim Umgraben eines Feldes. Dann erst beginnt die systematische Grabung. Das ist ähnlich wie bei einem künstlerischen Prozess, wo man auch erst etwas finden muss, bevor es losgeht. Einen Einfall zum Beispiel. Das ist nicht planbar, wird aber immer besser, je länger man damit zu tun hat.
„betrachten, betreten“ ist der Titel. Das Wortpaar war ein Fund während der Auseinandersetzung mit Bildern an Wänden und auf Böden: Das Innehalten der Betrachtung und die Handlung des Eintretens, beziehungsweise Schreitens durch den Raum. Das Bild betrachten, den Boden betreten. Interessant wird es, wenn man die Bedeutungen umkehrt: Den Boden betrachten, das Bild betreten. Das Bild wird dabei zum Raum und das vermeintlich Selbstverständliche, der Boden unter den Füßen, wird Gegenstand der Betrachtung.“