Wie kann kollaboratives Arbeiten und Lehren an einer Kunsthochschule aussehen? Studierende der Studienrichtungen Modedesign und Kommunikationsdesign haben es ausprobiert. Sie arbeiteten ein halbes Jahr lang an einem gemeinsamen Projekt. Entstanden ist dabei das Kollektiv „You Can Sit With Us“ (YCSWU), eine gemeinschaftliche Kollektion und ein Buch. Wir haben mit Evelyn Sitter, Professorin für Modedesign und Initiatorin des Projekts, gesprochen.
Redaktion (R): Was hat Sie dazu inspiriert, ein Studienprojekt mit dem Fokus auf kollaboratives Arbeiten ins Leben zu rufen?
Evelyn Sitter (ES): Seit vielen Jahren bin ich in der Modelehre tätig, und ich kenne es eigentlich andersherum: In meiner Berufstätigkeit als Designerin sammle ich Souveränität. Seit ich lehre, sammle ich Fragen. Ich glaube nicht mehr an Ausbildung Aller zu „Autor*innendesigner*innen“ und „Kreativdirektor*innen“. Wir müssen Designer*innen befähigen, mit einer Vielzahl von Stimmen und Bedürfnissen zu gestalten, mit den eigenen und anderen Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen, und ihnen früh die Möglichkeit geben, lernen zu teilen. Ich möchte ihnen bereits im Studium den Raum geben, einen eigenen Fokus zu finden und eigene Strukturen aufzubauen, damit sie danach in den Einstieg, in dieser fordernden Zeit, in ein sich permanent wandelndes Berufsfeld so gut wie möglich vorbereitet sind.
(R) Erzählen Sie uns mehr über das Projekt!
(ES): Studierende und Lehrende des Modedesigns und des Kommunikationsdesigns arbeiteten ein halbes Jahr gemeinschaftlich an diesem Projekt. Schnell bildete sich daraus das Kollektiv „You Can Sit With Us“, dass sich zum Ziel setzte, bestehende Strukturen in der Modewelt zu hinterfragen und einen zeitgenössischen, sozialeren Arbeitsansatz zu finden. Sie suchten neue Wege, die Auseinandersetzung mit Arbeitsbedingungen und -prozessen mit der gestalterischen Entwicklung eines Projektes zu verbinden.
Dabei experimentierten die Beteiligten mit alternativen Arbeits- und Kommunikationsformen und mussten einen Umgang miteinander finden, der sich nicht auf das individuelle Arbeiten und das ständige Schöpfen aus sich heraus fokussiert. Innerhalb der Arbeitsgruppe bildeten die Studierenden sogenannte Departments mit den Schwerpunkten Aktivismus, Form und Kommunikation, Print*, LAB, Tier/Mensch, Wäsche+. Neben der Projektarbeit besprach die Gruppe zeitgemäße Anliegen im Design und darüber hinaus intern mit Aktivist*innen und Designer*innen aus der internationalen Industrie. Entstanden sind am Ende eine Kollektion und ein Buch.
(R) Wie unterscheidet sich der Ansatz des Projekts von bisherigen Lehrangeboten in der Mode?
(ES): Traditionell erarbeiten Studierende im nationalen und internationalen Vergleich ihre Kollektionen im Alleingang. In diesem Projekt haben alle Studierenden gemeinsam eine Kollektion erstellt. In unterschiedlichen Departments, bestehend aus bis zu drei Personen, wurden Kleidungstücke entwickelt, die dann am Ende zu einer großen Kollektion gestylt wurden. Den Student*innen wurde somit ermöglicht, spezialisiertes Wissen in einer Produktgruppe aufzubauen, das sie wiederum in der Projektgruppe weitergeben konnten.
Die Gruppe bestimmte die Regeln der kollektiven Identität und der kollektiven Akteur*innen. Des Weiteren sollten die Bedingungen einer kreativen Leitung, des geistigen Eigentums und der Teilhabe diskutiert und festgelegt werden. Parallel dazu liefen wöchentliche Gruppengespräche, um die unterschiedlichen Entwicklungen zu überblicken und die neuen Arbeitsabläufe zu reflektieren.
(R): Die Ergebnisse des Projekts mündeten in einer Publikation – wie kam es dazu?
(ES): In diesem Projekt war das parallele Reflektieren und Auswerten der neuen Arbeitswege ganz wichtig. Durch das Auszeichnen und Verschriftlichen wurde diesem Raum gegeben und Wert zugeschrieben. Neben der Projektarbeit besprach die Gruppe zeitgemäße Anliegen im Design und darüber hinaus intern mit Aktivist*innen und Designer*innen aus der internationalen Industrie. Wir widmeten uns auch Fragen zur Arbeitsbelastung abseits von 24/7, etwas, das in der Mode leider schon so früh im Studium beginnt, und in der Arbeitswelt leider nach wie vor normalisiert ist.
In der selbst initiierten Zusammenarbeit zwischen den Studierenden des Modedesigns und des Kommunikationsdesigns gründete sich das Vorhaben dieser Publikation. Sie soll nicht nur die Erfolge zeigen, sondern auch die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die diese neuen Prozesse innehaben. In Essays kann hinter diverse Kulissen geblickt werden.
(R): Was nehmen Sie für Ihre zukünftige Lehrtätigkeit aus der Erfahrung mit dem Projekt mit?
(ES): Mit dieser Erfahrung gehe ich sicherer in das Wagnis der neuen Lehrformate. Ich bin der Gruppe sehr dankbar für ihr Engagement und ihre Reflexionen, im persönlichen Gespräch sowie in der Publikation. In meiner Lehre ist die Suche nach Formaten für das kollegiale, kollaborative und kollektive Lernen elementar. Dieses gestalterische Forschen unternehme ich am liebsten gemeinsam mit den Studierenden.
Wir alle haben sehr viel über das Arbeiten in der Gruppe gelernt: Wieviel Halt und Kraft der Austausch geben kann, wie mit dem Ego, das vieles lieber allein machen möchte, umgegangen werden kann, wie Gruppenprozesse erschwert oder erleichtert werden können. Und wieviel Energie generiert werden kann, wenn alle richtig loslegen: Die Studierenden sind noch weitere Kooperationen eingegangen, haben Gastvorträge etabliert und mehrere Essays geschrieben.
Wie war das Feedback der Studierenden, die mit Ihnen gemeinsam am projekt gearbeitet haben?
Es war ein sehr forderndes Projekt, das aber allen Mut gemacht hat, neue Wege zu gehen. Die Studierenden haben es geschafft, auf mehreren Ebenen ihre Fragestellungen zu diskutieren, parallel in mehreren Teams zu arbeiten, und Antworten zu finden. Der Austausch zwischen Modedesign und Kommunikationsdesign ist so wertvoll, wir alle waren so dankbar für die Professionalität, die die Studierenden der Fotografie und des Kommunikationsdesigns dem Projekt gegeben haben. Und auch das Ende war für mich sehr spannend: Die Studierenden haben gebeten, dass wir Lehrende nun auch Teil des Kollektivs werden, da wir die Publikation gemeinsam erarbeitet haben.
Stellen die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Projekt Sie vor weitere neue Herausforderungen?
Natürlich braucht es mehr Zeit, neue Wege einzuschlagen, um andere Strukturen zu etablieren. Wenn die Kollektion kollektiv erstellt wird, entstehen neue Fragen: Wie stellt man diese Prozesse im Portfolio dar? Wem „gehört“ nun eigentlich was? Wie stellt man ein Scheitern eines Vorhabens oder einer Gruppenarbeit dar? Hier müssen wir nun einen neuen Umgang etablieren. Ich habe während des Projektes mehrere Gäste aus der internationalen Modeindustrie eingeladen, auf Fragen der Studierenden zu reagieren. Das half bereits während des Prozesses, doch den gleichen Austausch benötigt man nun auch nach dem Abschluss des Projektes.
Was kommt als nächstes? Ist das Projekt ausgangspunkt für mehr?
Das Projekt hat viel positive Resonanz von den Studierenden erhalten, daher werde ich dieses Format auf jeden Fall verstetigen. Die Publikation wird unser Anker sein, die Reflexionen der Studierenden über die neuen Arbeitswege werden neuen Studierenden Halt geben, und jedes weitere kollektive Projekt wird das Format um neue Perspektiven erweitern. Unter den Studierenden wurden viele neue Bündnisse gefunden, ganz selbstverständlich arbeiten Studierende der Fotografie mit der Mode zusammen.
Danke für das Interview!